03.07.2023

Reste der Synagoge gefunden - Gießen ringt um würdigen Erinnerungsort

Gießen

Anfang des Jahres wurden die Fundamente der Synagoge an der Südanlage in Gießen gefunden. Ein Kolloquium berät über ein Denkmal.

Gießen - Jüdisches Leben war in Gießen keine Randerscheinung. Ausdruck dieser Tatsache war die Synagoge an der Südanlage in Gießen, die 1938 zerstört wurde. Dass Anfang des Jahres die Fundamente des Gotteshauses gefunden wurden, bezeichnet Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher als Geschenk. Doch wie kann dort eine angemessene Erinnerung geschaffen werden? Dieser Frage widmeten sich diverse Professionen in einem Kolloquium.

Alte Synagoge in Gießen soll Denkmal erhalten

Nach fast drei Stunden, als die Perspektiven der Jüdischen Gemeinde, der Stadt, der Denkmalpflege, der Stadthallen GmbH und der Architekten auf dem Tisch lagen, brauchten die Teilnehmer des Kolloquiums erstmal eine Pause. Es galt zu verdauen, dass in der Gesprächsrunde über einen Gedenkort für die Synagoge an der Südanlage unterschiedliche Sichtweisen - sachlich und unaufgeregt - aufeinandergetroffen waren. In der Diskussion traf Gerhard Merz von der Lagergemeinschaft Auschwitz den Kern, als er sagte: »Die freigelegten Reste der Synagoge sollen uns an eine Geschichte der Brüche erinnern. Und ich habe nicht die geringste Ahnung, wie man das macht.«

Am Freitag waren rund 50 Fachleute verschiedener Professionen in der Kongresshalle zusammengekommen. Sie stellten erste Überlegungen an, was auf den Fund der Fundamente der beim Pogrom am 10. November 1938 zerstörten Synagoge an der Südanlage folgen sollte.
Synagoge in Gießen soll Erinnerungsort werden

Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher nannte diese im Zuge von Umbauarbeiten der Kongresshalle gemachte Entdeckung »ein Geschenk, das wir nicht verdient haben, über das wir uns aber jeden Tag freuen«. Die Reste des Gotteshauses zeigten, dass jüdisches Leben in Gießen einen selbstbewussten Platz mitten in der Stadt hatte. »Die Steine geben aber auch Zeugnis von dem Verbrechen«, sagte Becher. Dem nähere sich die Gießener Gesellschaft »mühsam« an, um an die deutsche Schuld am Holocaust zu erinnern und der Verantwortung gerecht zu werden. Das Kolloquium soll der Startschuss sein für einen gemeinsamen Weg zu einem zeitgemäßen Erinnerungsort. Es müssten Möglichkeiten, aber auch Grenzen zusammengebracht werden.

All das soll aber nicht so laufen wie in den 60er Jahren, als die heute denkmalgeschützte Kongresshalle als Symbol für den basisdemokratischen Aufbruch der Gesellschaft gebaut wurde; vom Stil her ist sie einzigartig in Deutschland. Die Fundamente der Synagoge müssen damals aufgefallen sein, sagt Eibelshäuser, »aber mit den Mauerresten wurde nicht pfleglich umgegangen«.

„Funde müssen sichtbar bleiben“

Nur: Wie soll dieses »Geschenk« ein würdiger Gedenkort werden?

Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gießen , Dow Aviv, sagte: »Ich werde alles in meiner Kraft tun, dass die Reste der Synagoge nicht wieder verschwinden, sondern Sorge tragen, dass sie als stadtgeschichtliches Kulturgut sowie als Erinnerung mit dem verdienten Respekt erhalten bleiben und allen zugänglich sind.« Die jüdische Gemeinde wünscht sich, dass der verschüttete Bereich in Richtung Südanlage freigelegt und evaluiert wird. »Die Funde müssen sichtbar bleiben«, betonte Aviv. Auch sollte ein 3 D-Modell mit Informationen über das Gotteshaus angefertigt und vor Ort installiert werden. Dies habe er bereits vor fünf Jahren gefordert; der Plan sei aber in einer Schublade verschwunden.

Prof. Markus Harzenetter, Präsident des Landesamt für Denkmalpflege Hessen , appellierte, dem »Grundsatz der geringfügigsten Intervention« zu folgen. Die Kulturdenkmäler Synagoge und Kongresshalle teilten sich denselben städtebaulichen Raum. Die Frage sei: Wie können sie miteinander versöhnt werden? Einen Erinnerungsort zu schaffen heiße nicht, die Fundamente freizulegen oder zu vergrößern. Zentral müsse die Sicherung des Bestands sein, um nach der Dokumentation »diesen Bereich wieder zu schließen«. Der bauliche Eingriff müsse auf das Mindeste reduziert werden. Deshalb brauche es einen »dritten Weg« für den Erinnerungsort. »Das Selbstbewusstsein des liberalen, großbürgerlichen Judentums und das Verbrechen sind mit dem Keller und den Funktionsräumen nicht abbildbar.«

Alte Synagoge in Gießen hat angemessenen Erinnerungsort verdient

Prof. Wolfgang Lorch vom Architekturbüro »Wandel Lorch Götze Wach« betonte: »Das Schlimmste wäre eine Rekonstruktion, so als ob nichts passiert wäre«. Es gebe keine Patentlösung für diese Aufgabe, aber es brauche Dialog und Partizipation, um einen angemessenen Erinnerungsort zu schaffen. Dies verdeutlichte er anhand von Beispielen wie dem »sperrigen« Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Schoah in Wien mit einer dreisprachigen Gedenkinschrift. Im Gegensatz dazu steht das Denkmal zur Erinnerung an die Bücherverbrennung, ein vergleichsweise kleiner unterirdischer, nicht zugänglicher Raum mit leeren Regalen für 20 000 Bücher.

Sadullah Gülec hatte merklich Respekt vor der Aufgabe, angesichts der Bedeutung des Fundes der Synagogen-Reste die Sicht der Betreiberin der Kongresshalle, der Stadthallen GmbH , zu vertreten. Zuerst erläuterte er die Gründe für die Erweiterung des Foyers, das einen Teil der freigelegten Überreste des Gotteshauses überdecken könnte. Danach betonte er, dass sich ein sichtbarer Erinnerungsort und das Foyer seiner Ansicht nach nicht ausschließen. Gülec appellierte, zügig eine Entscheidung zu finden, um beide Projekte 2024 endgültig umsetzen zu können.

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